„Die Ganztagsschule bietet nicht nur neue Chancen, sie benötigt auch eine andere Gestaltung und Einrichtung von Lernräumen.“ sagt Christoph von Winterfeld, Bauberater aus Hamburg. Räume haben einen großen Einfluss auf das Lernen und auch auf die Nutzung der Schule für die vielfältigen Angebote ganztägiger Bildung. Es lohnt sich, den Stand der Gestaltung von Lernumgebungen in der eigenen Schule zu analysieren und Neues zu planen. Die Umsetzung jedoch erfordert Mut und Kreativität von Schulleitungen, anderen Pädagogen, Schulträgern und Politik.
Die Serviceagentur Ganztägig lernen M-V gibt Anregungen, unterstützt und macht Schulen Mut, die Gestaltung von Lernumgebungen als einen Qualitätsbereich ganztägig arbeitender Schulen weiterzuentwickeln. Nicht immer braucht man viel Geld dafür. Unter der Begleitung von Thomas Hetzel und Konni Fuentes, Mitarbeiter*innen der Serviceagentur, ist im Frühjahr 2020 das thematische Netzwerk 2 „Zeitgemäße Lernumgebungen gestalten in der ganztägig arbeitenden Schule“ gestartet.
Aktuell arbeiten vier Schulen zusammen. Im Rahmen des Netzwerkes wurde eine Kooperation mit der Hochschule Wismar (Fakultät Gestaltung) aufgebaut, die den Austausch und die Zusammenarbeit mit zukünftigen Architekten, Innenarchitekten, Licht- und Kommunikationsdesignern ermöglicht. Ziel der Netzwerkarbeit ist es, Konzepte im Bereich der Gestaltung von Lernumgebungen gemeinsam zu entwickeln sowie innovative Beispiele und gelungene Prozesse zu präsentieren. Dabei ist es allen Teilnehmenden möglich, sich mit anderen auszutauschen und gemeinsam Ideen zu entwickeln und umzusetzen.
Während der Zeit der Corona-Pandemie gab es im Rahmen des Netzwerks mehrere offene Online-Seminare zum Thema Gestaltung von Lernumgebungen, an denen auch Interessierte anderer Schulen, Student*innen der Hochschule Wismar und Expert*innen für Schulbau und Lernumgebung teilnehmen konnten.
Pädagogik, Architektur, Brandschutz
Die „Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft“ startete die Online-Seminarreihe im April 2020 mit dem Thema „Wechselwirkungen zwischen Pädagogik und Architektur bei der Gestaltung zukunftsfähiger Lernorte“. Barbara Pampe, Mitglied des Vorstandes und Urs Walter, Referent für Pädagogische Architektur, machten deutlich, welchen Herausforderungen sich Schulen im 21. Jahrhundert stellen müssen.
Das zweite Online-Seminar richtete sich an alle Interessierten, die sich mit der Umgestaltung von schulischen Lernräumen und Brandschutz auseinandersetzen wollen. Denn sowohl Schulneubauten als auch die Aus- und Umgestaltung von Bestandsbauten orientieren sich immer mehr an dem jeweiligen schulischen Konzept und an den zukünftigen Bedarfen von Lehrer*innen, Schüler*innen und der Gesellschaft.
Es gibt viele Möglichkeiten, bestehende Schulgebäude durch gezielte Möblierung notwendiger Rettungswege ohne Aufgabe des Sicherheitsniveaus zu erweitern. Insbesondere Brandschutz wird fälschlicherweise immer wieder als Hindernis empfunden. Dabei muss nur die Forderung einer ausreichend langen Nutzbarkeit notwendiger Flure und Treppenräume im Brandfall, mit einem Ausgang ins Freie als Abschluss der Rettungswege, umgesetzt werden.
Andreas Flock, Architekt und Sachverständiger, kennt die entmutigenden Erfahrungen von geringen Spielräumen und Verboten. Damit wird das Raumangebot in Bestandsschulen deutlich eingeschränkt. Sein Ansatz ist aber: Brandschutz richtig übersetzen, um neue Gestaltungsräume zu öffnen. Dabei sind Brandschutz und kreative Gestaltung eines schulischen Raumes keine diametralen Forderungen.
Andreas Flock benennt vier Schutzziele: Erhalt der lichten Rettungswegbreiten sowie Vermeidung von Unfallgefahren, Verletzungsgefahren und einer Brandentwicklung in den notwendigen Fluren. Auf dieser Grundlage stellte er interessante Ideen vor, wie Flure als Lernräume genutzt werden können, ohne den Brandschutz zu verletzen. Dabei kamen neue, moderne und ökologische Baumaterialien wie z. B. Hartholz ins Spiel. Ebenso empfiehlt Andreas Flock formstabile Möbel mit nichtbrennbaren Unterkonstruktionen.
Partizipative Klassenraumgestaltung
Im dritten Online-Seminar war das Thema „Partizipative Klassenraumgestaltung“. Katharina Sütterlin (Dipl.-Ing., Architektin) und Susanne Wagner, Innenarchitektin aus Berlin, gaben Einblicke in ihre Arbeit und kreative Hinweise für alle Teilnehmenden. Beide lernten sich als Mütter in einer Schule kennen. Beide fanden die Baustruktur nicht passend und machten der Schule ein Angebot. Dass dies mit offenen Armen aufgenommen wurde, überraschte sie. Dazwischen liegen jetzt 10 Jahre, ca. 35 Schulen und ungefähr 100 bauereignisse in Berlin und Umgebung. Angefangen mit Klassenzimmern, Fluren und Mensen, kamen später Theater, Bühnen oder auch die Gesamtorganisation Schulkorpus im Campus dazu. Nach ihrer Einschätzung umfassen die Zeiträume 3 Monate bis 2 Jahre. Wichtig sind vor allem greifbare Ergebnisse. Das kann vom Möbel schieben bis zu Umbau oder Akustik reichen, so Sütterlin und Wagner.
Unter den Pädagogen gäbe es dabei eine große Heterogenität, meinen beide. Ihre Strategie: Mit denen, die wollen, verändern; mit einem kleinen Team andere mitziehen oder überzeugen. In dieser relativ langen Zeit haben beide Frauen eine Menge Erfahrungen gesammelt. So sind kleine, geschützte Räume besonders bei einigen Schüler*innen beliebt. Bodenarbeitsplätze ermöglichen eine größere Anzahl Kinder und Bewegung und erübrigen Stühle.
In Flurschulen und Mensen braucht man Tische und Bänke mit Kompromisshöhe. So kommen Kleinere gerade noch mit den Füßen auf den Boden und Größere können gut sitzen, ohne sich die Knie zu stoßen. Die Partizipationsprozesse beschreiben Sütterlin und Wagner so: Budget – Wünsche – Bauerereignis. Das eigentliche bauereignis gliedert sich dabei in 4 Schritte. 1. Zielfindung, ca. 4 Tage; 2. Bürophase, ca. 4-6 Wochen; 3. Schüler*innen-Baustelle, 4-5 Tage; 4. Fertigstellung, ca. 2 Tage. Damit erstreckt sich das bauereignis auf insgesamt ca. 2 Monate. Es gebe aber auch ganz einfache Maßnahmen, meinen beide. Oft reicht es schon, auszumisten, Wände aufzuräumen, flexibles Mobiliar anzuschaffen, Bewegung zuzulassen und verschiedene Distanzen zu ermöglichen. In angeregter Diskussion tauschten sich die Teilnehmenden des Seminars vom Budget über die individuellen Wünsche bis hin zum Bauereignis aus.
Gemeinsam gestalten
Das vierte Online-Seminar „LernRAUMlabore“ fand mit dem Architekten, Pädagogen und Schulentwickler Andreas Hammon aus St. Gallen/Schweiz statt. Er hat das LernRAUMlabor konzipiert und im Rahmen von 20 Projekten in Kooperation mit Schulen, Kommunen, Schul- und Bauverwaltungen, 8 Universitäten und einem EU-Forschungsprojekt weiterentwickelt. Sein Schwerpunkt ist der Zusammenhang Pädagogen-Lernumgebung-Schulentwicklung. Grundlegende Fragen dabei sind:
- Wie kann räumliche Lernumgebung Lehrer*innen entlasten und Schüler*innen motivieren?
- Wo schlummern ungenutzte räumliche Ressourcen?
- Wie können Zielsetzungen der Schul- und Unterrichtsentwicklung räumlich und strukturell gestützt werden?
Andreas Hammon machte deutlich, wie wichtig es ist, mit Räumen zu „laborieren“. Für ihn ist Lernen gleich Interaktion. Das heißt, Interaktionsfelder werden identifiziert und ko-kreativ gestaltet. Er sprach dabei von einem Trialog auf Augenhöhe zwischen Schule, Architekt und Schulträger. Wenn Kinder für die Zukunft lernen und wir sie auf die Zukunft vorbereiten wollen, dann braucht es dafür auch entsprechende Raumkonzepte, so seine Aussage. Sein LernRAUMlabor ist ab Klasse 3 geeignet und erweist sich als fach- und generationsübergreifendes Lernfeld für alle Beteiligten. Es lebt von Partizipation und Ko-Konstruktion und beginnt mit der Idee.
Im Rahmen einer Projektwoche erkunden und entwickeln Schüler*innen und Lehrer*innen, unterstützt von Studierenden der Pädagogik/Architektur und Expert*innen, neue Ideen zur Gestaltung und Weiterentwicklung der schulischen Lernumgebung. In fünf Tagen wird ein Bogen geschlagen; von ersten Ideen, Bildern, Skizzen und 1:10 Modellen bis hin zu öffentlich präsentierten 1:1 Modellen und Prototypen. Um ein Cluster in einer Schule zu gestalten, braucht man natürlich mehrere Monate bis zum Einzug. Anregende Beispiele aus über 20 Gestaltungsprojekten findet man in der Volksschule Hall in Tirol, der Evangelischen Schule Neukölln oder der Impulsschule Steyr.
Ein zweiter Schwerpunkt des LernRAUMlabors sind die Netzwelten. Dabei handelt es sich um die Entwicklung von neuen Raumkonzepten mithilfe von Seilnetzkonstruktionen im Innen- und Außenbereich.
Asynchrones Lernen und Raumentwicklung
Im fünften Seminar stellte Bauberater Christoph von Winterfeld das Thema „Asynchrones Lernen und Raumentwicklung“ vor, mit Schwerpunkt auf Schulentwicklung sowie Beratung von Schulen und Kommunen,. Dabei gab es Informationen zu Raumplanung, Lernlandschaften für Inklusion, Digitalisierung und Ganztag. Asynchrones Lernen bedeutet nach von Winterfeld, dass Lehrer*innen und Schüler*innen sich nicht zur gleichen Zeit im gleichen Raum befinden. Diese Kombination von Fern- und Präsenzunterricht gewinnt zunehmend an Bedeutung. „Ein Ingenieur setzt alles um, was mess- und machbar ist. Bei Pädagogen ist das anders.“ Deshalb ist für Christoph von Winterfeld ein NEIN nur ein Grund dafür, es anders zu machen. Soll heißen: synchronisieren, vermitteln, beraten – Bauberater! Dieser muss nach seiner Ansicht Alternativen anbieten, Bestellende professionalisieren, an Mit- und Nachnutzung denken, intelligent reduzierte Aufgaben definieren. Ihm ist der Austausch mit Lehrer*innen wichtig, denn Architekten sind nicht nur Dienstleister, sondern auch Impulsgeber.
Er sieht sich als Qualitätstreiber, der Anregungen und Impulse für neue Lernmethoden gibt. Das größte Risiko ist die „ICH Schule“. Die Ganztagsschule ist für ihn genau das Gegenteil, vielfältige Angebote die Menschen miteinander verbindet. In einem Großteil unserer Schulen gibt es Funktionsüberlagerungen, die zwar gut für paralleles, aber schlecht für asynchrones Lernen sind. Sechzig Quadratmeter sind mehr, als man denkt, und Klassengrößen und –verbände spielen dabei keine Rolle, denn Lehrende und Begleitende sind für alle Kinder da. Er plädiert deshalb für einen Mix aus mobilen und stationären Möbeln, damit Räume andere, zusätzliche Impulse bieten und fehlende häusliche Lernorte kompensieren.
Inklusion und Schulbau
Im Januar 2021 endete die Fortbildungsreihe mit dem Online-Seminar „Inklusion und Schulbau“ von Angelika Fuchs. Die selbständige Architektin und Stadtplanerin lebt in Deutschland und den Niederlanden. Da die Niederlande schon viele „Türen geöffnet“ haben, um Umgebungen zu schaffen, in denen alle Schüler*innen und Lehrer*innen sich wohlfühlen und gut lernen können, war dies der Anstoß für ihre Visionen. Als man 2009 in Deutschland darüber nachdachte, alle Förderschulen aufzulösen, war die Zeit gekommen, um diese Visionen auch nach Deutschland zu tragen. Einer der wichtigsten Grundsätze von Angelika Fuchs lautet: Ein Kind hat 3 Lehrer: Die Lehrkraft, andere Schüler*innen und das Schulgebäude! Somit haben, nach ihrer Einschätzung, Schulgebäude einen wesentlichen Einfluss auf das Lernverhalten von Schüler*innen. Dazu gehören in ihren Augen Licht und Farben, Luft, ggf. Ventilation, Akustik und der Schulhof.
Ein besonderes Augenmerk legt Angelika Fuchs bei ihren Ideen auf die Inklusion. Dabei geht es ihr nicht nur um einen anderen Unterrichtsansatz, sondern auch um die Schüler*innen und ihre besonderen Bedürfnisse. Inklusion beinhaltet nach ihrem Verständnis die Betreuung und Begleitung in der Schule und mehr Solidarität unter den Kindern. Angelehnt an das niederländische System unterteilt sie in 4 Cluster: Sehstörungen, Hörstörungen, motorisch-geistig-chronische Störungen und psychische Störungen. Entsprechend dieser Einschränkungen empfiehlt sie gezielte Orientierungshilfen. Das bezieht sich zum Beispiel auf „Sicherheit vs. Herausforderung“ (Gänge mit Hügeln und Erhebungen), „Überreizung vs. Wahrnehmung“ (Licht, Farben, Kontraste) oder auch „Reizarmut vs. Anregung“ (Wärme, Pflanzen, Gerüche). Das Fazit von Angelika Fuchs lautet: Entwerfen für alle Sinne – Wahlfreiheit für alle Verhalten – Eindeutigkeit von Raum!
Instagram - Lernumgebungen
Die Serviceagentur Ganztägig lernen M-V stellt bei Instagram Bilder zum Thema „Gestaltung von Lernumgebungen – Lernen voneinander“ vor.