Schulen in ländlichen Räumen stehen oftmals vor großen Herausforderungen, was die Einbindung außerschulischer Partner betrifft, auch mit Blick auf die Sicherung ihrer Schulstandorte und die Mobilitätsanforderungen. Im Grundschul-Netzwerk der Serviceagentur Ganztägig lernen M-V ist aus dieser gemeinsamen Problemfokussierung heraus das Anliegen entstanden, sich untereinander stärker zu unterstützen mit gegenseitigen Besuchen sowie Netzwerktreffen zu spezifischen Themen (Digitalisierung, flexible Eingangsphase, pädagogische Mittagszeit etc.). Zusätzlich ergab sich durch die „Erasmus+“-Akkreditierung des Trägervereins der Serviceagentur, der RAA M-V, die Möglichkeit, mit einer Finanzhilfe der Europäischen Union im Mai 2024 eine einwöchige Hospitationsreise durchzuführen.
Kleinstschulen als pädagogische Biotope – Südtiroler Innovationsimpulse für M-V
Gemeinsam mit der Freien Universität Bozen organisierte die Serviceagentur ein "Jobshadowing" für zwei- bis dreiköpfige Lehrkräfteteams aus Grundschulen in Mecklenburg-Vorpommern, die sich zu erfolgreichen Ansätzen des jahrgangsübergreifenden Lernens und der selbstorganisierten Wochenplanarbeit weiterbilden konnten. Die Universität Bozen hat sich als eines der maßgeblichen Zentren für Schulentwicklung in ländlichen Räumen etabliert und begleitet sehr kleine ländliche Grundschulen in allen Regionen Südtirols. Professorin Annemarie Augschöll Blasbichler von der Pädagogischen Fakultät der Uni Bozen schuf gemeinsam mit dem Lehrer Florian Thaler einen Verbund aus abgelegenen Dorfschulen mit jeweils maximal 30 Schulkindern. Dieses Südtiroler Kleinstschulnetzwerk soll den Umstand kompensieren, dass diese Schulen mit manchmal nur ca. 10 Schülerinnen und Schülern, die jahrgangsgemischt unterrichtet werden, nur von wenigen Lehrpersonen getragen werden. Das Netzwerk ermöglicht den pädagogischen Austausch und initiiert zugleich eine Zusammenarbeit durch gegenseitige Besuche der Schülergruppen. Eine Besonderheit des Netzwerks besteht zudem in einem Pool an Südtiroler „Weltwissenspaten“, die sich bereiterklärt haben, als besondere Praktiker oder prominente Ehemalige ihrer Schulen diese Grundschulen zu unterstützen.
Prof. Augschöll Blasbichler begrüßte die Lehrkräfte aus Mecklenburg-Vorpommern mit einem einführenden Vortrag zur Südtiroler Bildungsgeschichte, die durch das besondere Verhältnis zwischen der zentral gesteuerten italienischen Bildungspolitik und der Südtiroler Landesdirektion für deutschsprachige Schulen in der Autonomieregion geprägt ist. In der Zeit des italienischen Faschismus war es den Südtirolern verboten, in der Schule Deutsch zu sprechen, und erst seit dem Zweiten Autonomiestatut im Jahr 1972 wurde der deutschsprachigen Bevölkerung die Möglichkeit eröffnet, Stellen im öffentlichen Dienst wie im Schulbereich zu übernehmen. Die italienischen Bildungsgesetze schreiben seit 1962 für alle Schulen fünf Jahre Grundschule sowie eine gemeinsame Mittelschule bis zum Alter von 14 Jahren vor, ohne dass eine Aufteilung in Schulformen wie in Deutschland erfolgt. In Südtirol erfolgt jedoch eine Auftrennung in deutsche, italienische und ladinische Schulen, die jeweils über eigene Schuldirektionen (Landesschulämter) verfügen, wodurch es zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen wenig Berührungspunkte gibt (1).
Jahrgangsübergreifendes Lernen in St. Oswald
An kleinen Dorfschulen lässt sich die Verbundenheit der Landbevölkerung mit ihrer Heimatregion ganz besonders eindrücklich ablesen. Die Schulstellenleiterin der Grundschule St. Oswald bei Kastelruth, Manuela Steiner, unterrichtet aktuell 11 Kinder im Alter von 5 bis 11 Jahren in einer gemeinsamen Klasse. Mindestens seit 1778 ist eine Dorfschule in St. Oswald nachgewiesen, einem Streudorf mit vielen Höfen auf 800 Metern Höhe über dem Eisacktal und zu Füßen der Seiser Alm. Im gesamten Dorf leben 142 Einwohner und die Schule sah sich zuletzt im Schuljahr 2021/22 mit einer möglichen Schließung konfrontiert, die nur mit Unterstützung der gesamten Kommune und ihrer Einwohner verhindert werden konnte.
Das jahrgangsgemischte Arbeiten in St. Oswald erfordert ein gutes Management, zumal die Schulstelle von nur 2 Lehrkräften geführt wird; stundenweise kommt eine Italienischlehrerin sowie ein katholischer Religionslehrer in die Schule. Das Schulhaus, ein Neubau aus dem Jahr 1993, ermöglicht es, eine familienähnliche Schulsituation zu schaffen mit zwei Unterrichtsräumen, einer "Gedichteküche", einem Leseraum, einer Computerecke, einem Sportraum und einem Kunstatelier. Die weitläufige Umgebung mit einer großen Wiese, einem Weiher und der Mehrzweck-Feuerwehrhalle lädt zu naturnahem Arbeiten ein. Neben der Ausgestaltung vieler liebevoller Projekttage sticht St. Oswald jedoch noch durch eine andere Besonderheit hervor: das aktive Zugehen auf die Kommune und das gesamte Schulumfeld. Die Schule richtet die Weihnachtsfeiern des Dorfes aus, organisiert das Martinsfest, ist Anziehungspunkt der Erstkommunionsfeiern, übernimmt Baumpflanzaktionen, einen Muttertags-Brunch, einen "Clean-up-Day" im Ort und stiftet damit den sozialen Zusammenhalt in der Umgebung. Für die Schulstellenleiterin Manuela Steiner gilt, „die Bildung eines Kindes ist Ergebnis und Verantwortung aller, in deren Mitte es lebt“, sodass das gesamte Dorf für das lebensnahe Lernen mitverantwortlich ist.
Ein Beispiel für diese enge Verantwortungsgemeinschaft ist die Schulbegegnung, die Manuela Steiner am 28. Mai in St. Oswald organisierte: Unsere Delegation wurde begrüßt von der Schulführungskraft des übergeordneten Schulsprengels Mals, Sonja-Barbara Di Luca, sowie einer Referentin der Bürgermeisterin, zwei Elternvertreterinnen, der Direktorin der Pädagogischen Abteilung und dem früheren Schüler und heutigen Wirt des Tschötscherhofs in St. Oswald, Michael Jaider. Sie bekräftigten den Stellenwert, den die kleine Grundschule für das soziale Miteinander, die Lebendigkeit und die Zukunftsfähigkeit des Dorfes hat. Auch der Landwirt und Sänger der Kastelruther Spatzen, Norbert Rier, der selbst in St. Oswald zur Schule ging, engagiert sich als einer von zahlreichen Paten für diese Kleinstschule und führt gemeinsam mit Manuela Steiner Projekttage durch.
Wochenplanarbeit in der Grundschule Planeil
Der Mitbegründer des Südtiroler Kleinstschulnetzwerks, Florian Thaler, leitet seit 10 Jahren die Grundschule Planeil, die die Lehrkräfte aus M-V im Rahmen der Erasmus-Hospitation ebenfalls kennenlernen konnten. Diese Schule im Nordwesten Südtirols liegt inmitten eines Vinschgauer Bergdorfs am Ende eines relativ abgelegenen Tals nahe des Reschenpasses im Schulsprengel Mals. Dieser Ort erlebte in den vergangenen Jahrzehnten durch Geburtenrückgang, Wegzug und die Schließung kleiner Handwerksbetriebe einen erheblichen strukturellen Wandel. Neben der Grundschule und den Wohnhäusern gibt es nur noch einen Gasthof; zum Arbeiten fahren die Einwohner ins Tal und weiter in die Städte.
Die Grundschule Planeil muss sich alle 5 Jahre wieder um eine Genehmigung ihres Schulstandorts bemühen und wird dabei von den Familien im Ort stark unterstützt. Bekannt ist die Schule insbesondere für ihre Wochenplanarbeit, die die gegenwärtig 10 Kinder zur Selbstorganisation anleitet, indem sie sich den Unterrichtsstoff mithilfe von vorbereitetem Lernmaterial ungleichzeitig erschließen und hierzu Aufgaben lösen. Den Überblick über die erledigten Aufgaben sowie Rückmeldungen und Kontrollen der Lehrer werden in einem „Arbeitspass“ festgehalten. Im Rahmen des Hospitationsbesuchs wurde diese Arbeitsweise vorgestellt; die Schule ermöglichte einen Einblick in diese Wochenpläne und das zugehörige Arbeitsmaterial.
Das Schulumfeld spielt auch in dieser Schule eine enorme Rolle: Die Grundschule übt jährlich neue Theaterstücke zu Weihnachten und zum Martinsfest ein. Im Untergeschoss der Schule befindet sich der Dorfsaal, der auch von der Schule für Proben, Aufführungen oder zum Sport genutzt wird. Für Veranstaltungen gestalten und verteilen die Kinder Einladungskarten, es werden Spiele mit Senioren gespielt, gemeinsame Räumungs- und Rettungsaktionen mit der Feuerwehr durchgeführt und die Schule gibt eine sogenannte „Zwergenzeitung“ mit Berichten über das lokale Geschehen heraus. Auch hier erweist sich die Arbeit der Schule als Bindeglied für den sozialen Zusammenhalt in der ganzen Umgebung.
Um den Südtiroler Schulen den Besuch außerschulischer Lernorte und Partnerschulen oder einfach nur die Schülerbeförderung zu erleichtern, wird allen Schülerinnen und Schülern für lediglich 20 Euro im Jahr ein „Südtirol Abo Plus“ zur Verfügung gestellt, mit dem der ÖPNV landesweit genutzt werden kann. Ein solches Modell ist insbesondere für die Belebung der Aktivitäten in ländlichen Räumen reizvoll und gewinnbringend.
Inklusion im italienischen Schulsystem
Im Anschluss an den Praxiseinblick in Planeil folgte ein Fachvortrag der Professorin für Allgemeine Didaktik und Inklusion an der Freien Universität Bozen, Professorin Vanessa Macchia. Sie gilt als eine der führenden Inklusionsexpertinnen und gab unserer Delegation einen Überblick über das italienische Schulsystem, das seit 1962 eine Einheitsschule vorschreibt und mit weiteren Bildungsgesetzen die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen in das reguläre Schulwesen regelt. Im Jahr 1977 wurden überall in Italien, auch in Südtirol, die Sonderschulen abgeschafft. Die Grundschulen (Jahrgänge 1-5), Mittelschulen (6-8) und Oberschulen (9-13) sind dazu angehalten, Maßnahmen zur Individualisierung des Lernens für alle Schülerinnen und Schüler zu ergreifen, wie es die Rahmenrichtlinien seit 2009 verlangen. Besuchen Kinder mit einer Beeinträchtigung eine Klasse, so wird in dieser eine zusätzliche Integrationslehrkraft eingesetzt, die für die gesamte Klasse zuständig ist und nicht nur für das einzelne Kind. Das Lehramtsstudium selbst dauert an der Bildungswissenschaftlichen Fakultät der Universität fünf Jahre, wobei das pädagogische Personal für Kindergärten und Grundschulen gemeinsam und mit denselben Studieninhalten ausgebildet wird.
Transferüberlegungen für die Schulpraxis in M-V
Um die Hospitationseindrücke für die Schulentwicklung in Mecklenburg-Vorpommern zu nutzen, erfolgte zum Abschluss eine Auswertungs- und Transferwerkstatt mit den beteiligten Schulen (Grundschule „Dr. Theodor Neubauer“ Grimmen, Grundschule „Werner Lindemann“ Lübstorf, Montessori-Schule Greifswald, Grundschule „Felix Stillfried“ Stralendorf). Besonderen Eindruck hat gemacht, dass die Südtiroler Schulen versuchen, ihr soziales Umfeld auf vielfältige Weise zu aktivieren und dafür ein gegenseitiges Unterstützungsnetzwerk pflegen. Die Idee der Paten, also spannender Praxispartner aus der Region, sollte auch in M-V mehr Eingang in schulische Kooperationen finden. Potenzial wird außerdem darin gesehen, durch schulische Projekte den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft wie auch die Bindung der Heranwachsenden an die Heimatregion zu stärken. Eine ländliche Schule zu sein kann sich als Stärke erweisen und einen Anknüpfungspunkt für viele kreative Aktivitäten bilden (2).
Noch mehr Eindrücke gewünscht?
Hintergründe und Einblicke zu den Programmpunkten und Hospitationsstationen finden Sie im Highlight-Kanal des Instagram-Accounts der Serviceagentur.
Verweise
(1) Annemarie Augschöll Blasbichler (2014): Kleinschulgipfel. Internationaler Austausch zu Theorien und Praktiken betreffend die verschiedenen Aspekte von Leben, Lernen und Arbeiten in kleinen Schulen. In: forum schule heute 28 (4), S. 35-37.
(2) Michael Retzar & Pierre Tulowitzki (2022): Warum ländliche Schulen ein Thema sind – journal für schulentwicklung 26 (4).